Sonntag, 24. Oktober 2010

Tach Inländer!

Jiujiang, den 23. Oktober 2010

Tach Inländer!
Heute bin ich genau zwei Monate in Jiujiang. Es ist schon so gut wie November, dann kommt auch bald Weihnachten und danach steht 2011 vor der Tür. Die Zeit rennt also gnadenlos.
Sogar in der Volksrepublik China kann man zunehmen, was keiner von uns vorher gedacht hat. Ich habe nach guten 60 Tagen in China schon drei Kilo mehr auf den Rippen. Zwar weiß ich nicht genau, wo sie sich verstecken, aber sie sind da. Meine Gastmutter ist also auf dem besten Weg ihr Ziel zu erreichen. „Du musst viel essen, denn wenn du dünn in Hamburg ankommst, ist deine Mutter sauer auf mich!“ Na ja, solange ich nicht als Mastschwein in den Frachtraum des Fliegers gesperrt werde, ist alles gut. Uns wird bereits jetzt ständig gesagt, dass wir fett sind. Unsere Lehrerin reibt es uns immer und immer wieder unter die Nase. Sie sagt nicht dick, pummelig, kräftig gebaut oder sonst was, sondern immer fett. Natürlich sind wir nicht so dünn wie die ganzen Chinesen in unserem Alter, aber das ist auch gut so! Mein Gastbruder ist um die 1,85m und wiegt bestimmt nicht mehr als 55 Kilo. Trotzdem muss ich hier jetzt endlich mal eine richtige sportliche Aktivität finden. Der Belgier und die Italienerin gehen wöchentlich zum Tai-Chi, aber ich bin eher auf der Suche nach etwas, bei dem ich mich körperlich auspowern kann. Falls ich in unserer Weltmetropole ein Fitness-Center sehen sollte, werde ich meinen Bruder da hereinschleppen. Er sollte mal etwas weniger lernen und mehr Sport machen. Wobei, vielleicht sollte er doch nicht so viel Sport treiben, denn schließlich hat er sich gerade beim Basketballspielen das linke Handgelenk gebrochen. Er scheint es richtig zu genießen, dass er jetzt von allen Seiten mehr Aufmerksamkeit bekommt, wie ein Zehnjähriger. Bei allem braucht er Hilfe. Er kann sich nicht alleine die Hose anziehen, nicht duschen, nicht mit Stäbchen essen und noch vieles mehr. Wenn ich ihn von der Seite anspreche, muss er den kompletten Körper drehen, anstatt nur den Kopf zu neigen und wenn er etwas aufheben muss, muss er mit geradem Oberkörper ganz tief in die Knie gehen. Ein gebrochenes linkes Handgelenk kann einem Rechtshänder das Leben echt schwer machen. Ich habe mir zwar zum Glück noch nie etwas gebrochen, aber ich hatte zur selben Zeit einem Kapselriss im Daumen und einem verstauchten Zeigefinger in der rechten Hand und da kann man sie nicht wirklich mehr benutzen. Doch ich konnte duschen, mich anziehen und sogar mit der linken Hand essen, das ist schon echt seltsam.
Nudeln gehören hier nicht gerade zu meinem Lieblingsessen. Nicht, dass sie nicht schmecken würden, aber sie sind immer in einer Suppe. Ihr könnt euch bestimmt vorstellen, dass Spaghetti in Wasser und Öl nicht gerade leicht zu essen sind, wenn man nur zwei Holzstäbchen hat. Außerdem spritzen mir die Unmengen an Öl durchs ganze Gesicht und der Mund fühlt sich danach an, als hätte ich einen extragroßen Labello zum Essen gehabt. Hund wird hier übrigens gegessen. Zwar gab es bei mir noch keinen, aber wir haben ihn auf einem Markt gesehen. Er hing da an einem Haken und ihm war wortwörtlich das Fell über die Ohren gezogen worden. Hätten sie den Kopf nicht gelassen, wie er von Natur aus ist, dann hätten wir wahrscheinlich nicht erkannt, was es ist.
Von ehemaligen Austauschschülern, die auch an unserer Schule waren, haben wir gehört, dass bisher jeder seine Probleme mit der Chinesischlehrerin hatte. Die ersten Ausländer im Jahre 2005 mussten für ihre Stunden kämpfen, weil sie meinte, dass sie nicht dazu verpflichtet sei, was eine Lüge ist. Zum Glück haben wir seit zwei Wochen noch einen anderen Lehrer, der deutlich besser ist! Mittlerweile findet der Unterricht häufiger statt. Diese Woche hatten wir zum Beispiel an zwei Tagen Sprachstunden.
Von den bei uns gängigen „Sportmarken“ wird in Jiujiang am häufigsten Kappa getragen. Es scheinen sich auch die beiden Brüder Kappy und Kpapa hier niedergelassen zu haben, allerdings sind sie deutlich billiger. Das gibt bestimmt einen Familienstreit. Anders als bei ck, denn Calvni Klein dominiert hier eindeutig das Geschäft.
Die Chinesen stehen überhaupt nicht auf Kombis. Ein Auto muss ein SUV oder eine Limousine sein. In der ganzen Zeit hier habe ich erst einen Kombi gesehen. Ein „dickes“ Auto mag ja ganz schön sein, doch man sollte es auch zu bedienen wissen. Allzu oft sieht man verzweifelte Autofahrer mit ihrem Q5 oder 7 in den kleinen Straßen der Stadt. Wenn Chinesen einparken, kann man schon mal warmes Wasser in der Wohnung aufsetzen. Gefühlte zwanzigtausend Mal setzt meine Mutter vor und zurück. Wenn sie dann irgendwann halbwegs zufrieden ist, steigt sie aus und guckt sich an, wie der Wagen steht. Danach wird sich wieder ins Gefährt begeben, die Handbremse gelöst, der Rückwärtsgang eingelegt und zwei Zentimeter zurück gesetzt. Dann steht das Auto gut.
Im zweiten Drittel des Oktobers hatten wir nur Dauerregen und Kälte. Die arktischen Temperaturen gingen bis an die 15 Grad Celsius und es war sich wieder jeder am beschweren, wie kalt es doch sei. Es führte sogar so weit, dass Joshy im Oktober bei 15°C eine Jeans und einen Pullover getragen hat. Unvorstellbar, aber wahr! Seit einigen Tagen ist aber schönes Wetter und die Temperaturen liegen beständig bei 25°C. Jedoch habe ich in Jiujiang gelernt, dass sich das von Tag zu Tag ändern kann und am Montag sollen auch nur noch 12 Einheiten auf dem Thermometer angezeigt werden. Da es hier keinen super Trinkjoghurt gibt, der meine Abwehrkräfte aktiviert, griff ich seit der Ankunft zur altertümlichen Methode, der kalten Dusche. Doch trotzdem habe ich seit einer guten Woche Schnupfen und manchmal leichten Husten. Allerdings haben wir von unseren Vorgängern gehört, dass der Hauptfaktor die schmutzige Luft ist. Manche hatten die kompletten zehn Monate lang eine „Erkältung“. Das wäre natürlich alles andere als optimal. Bei den deutschen Lehrern geht es bisher diesen Weg.
Ich war auf meiner ersten Chinesischen Hochzeit, aber es war zum Glück nicht meine eigene. Gewisse Grundlagen scheinen überall auf der Welt gleich zu sein, doch der Großteil war neu für mich. Ständig wurden Feuerwerkskörper gezündet und die knallen auch richtig! Als einer drei Meter neben mir explodierte, habe ich erst mal eine halbe Stunde nichts auf dem linken Ohr gehört. Die Feier fand in einem großen Restaurant statt, allerdings war es keine wirkliche Zeremonie. Das Ringanstecken und der erste Kuss danach geschahen hinter einer Wand aus übergroßen Wunderkerzen, so dass auch ja niemand etwas sehen konnte.
Ich habe das Gefühl, dass meine Gedanken hier ständig wahr werden. Das eine Mal zum Beispiel dachte ich, dass ich in meinem Zimmer schon lange keine große Spinne mehr gesehen habe und wenige Stunden später sitzt ein gigantisches Monster über meiner Tür. Ein anderes Mal sehe ich eine Mücke und als ich die elektrische Fliegenklatsche ergreife und mich umdrehe, ist sie weg. Wenn sie mir jetzt in den Hinterkopf stechen würde, wüsste ich wenigstens wo sie wäre, denke ich mir. Ein paar Sekunden später merke ich ein Stich auf meiner Kopfhaute, schnelle herum und sie ist direkt vor meinem Gesicht. Oder ich gehe abends ins Bett und mir fällt auf, dass ich schon seit langer Zeit keine Mückenstiche mehr hatte. Am nächsten Morgen habe ich alleine vier an einem Arm und das sind nur einige Beispiele. Natürlich sind das alles nur Zufälle, aber es ist irgendwie schon merkwürdig.
Am Anfang war es toll von allen betrachtet zu werden, dann war es nur nervig und mittlerweile habe ich meinen Spaß daran gefunden. Ich versuche immer vorher zu erraten, wie die Leute auf mich reagieren werden. Als mir ein kleines Mädchen entgegengekommen ist, hatte sie den Blick auf den Boden gerichtet und war in einem Tagtraum. Es war klar, dass sie einen Schock bekommen würde, wenn sie mich sähe. Ihr Blick wanderte an mir hoch und als er mein Gesicht erreichte, fiel ihr der Unterkiefer herunter und ihre Augen wurden so groß wie meine. Wenn zwei Mädchen vor mir gehen und die eine mich sieht, zähle ich nur die Sekunden, bis sich die zweite umdreht.
Nach knapp zwei Monaten habe ich mir endlich ein chinesisches Handy und eine SIM-Karte geholt. Ich bin mit dem Ziel „Es soll nur nicht völlig hässlich und teuer sein und auch auf Englisch laufen“ in das Geschäft gegangen und habe das erstbeste Handy genommen. So sollte man auch in Deutschland auf Handysuche gehen. Ich war zu Hause durchaus positiv überrascht, als ich herausfand, dass die Boxen von Yamaha sind und es über einen Touchscreen verfügt. Okay, bei einer Marke namens K-Touch hätte ich da auch vorher drauf kommen können, aber egal. Eine SMS innerhalb Chinas kostet einen Mao (1 Yuan = 10 Mao = 100 Fen) und ins Ausland einen Yuan. Telefonieren kann hier in durchaus „teuer“ werden, da der Preis von der Entfernung abhängig ist und China ist nicht so klein.
Meine Mutter hat mir gesagt, wieso sie sich für mich als Austauschschüler entschieden hat. Unsere Lieblingslehrerin hat den Familien nur gesagt, aus welchen Ländern wir kommen, nicht aber wie wir aussehen und alles Mögliche. „Deutsche sind zuverlässig und pünktlich, Chinesen sind das überhaupt nicht! Ich mag Deutsche“, sagte sie mir. Weil man in China dem Gegenüber das Gesicht wahren soll, habe ich sie nicht weiter gefragt, wie vielen Deutschen sie in ihrem Leben schon begegnet ist.
Manchmal muss man einfach eine Entscheidung aus der Situation heraus treffen, ohne sich wirklich mit ihr auseinandergesetzt zu haben. Als ich mich im November letzten Jahres dafür entschieden habe nach China zu gehen, war es genau so. Auf dem sogenannten Auswahlwochenende der Austauschorganisation traf ich Golo, der 2007/08 in Shanghai war. Er hat mir viel über China erzählt und nach dem Wochenende stand für mich fest, dass ich dahin gehen werde. Als ich dann eine knappe Woche später die Unterlagen zur Bewerbung bekommen habe, war ich mir schon nicht mehr ganz so sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Aber es war noch an oberster Stelle in meinen Gedanken und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich Golo in dieser Sache nicht enttäuschen dürfte, was natürlich völliger Schwachsinn ist. Also priorisierte ich China höchstmöglich und schickte die Bewerbung zurück. Kurze Zeit später stand dann fest, dass ich nach China gehen werde. Hätte ich auf dem Wochenende mit jemandem so viel gesprochen, der in Venezuela gewesen war, dann hätte ich mich wahrscheinlich für Venezuela entschieden oder hätte ich die Unterlagen erst ein paar Wochen später bekommen, wäre meine erste Wahl vermutlich auch nicht China gewesen. Na ja, viel hätte, wenn und wäre jetzt sitze ich in meinem Zimmer in Jiujiang (China) und das ist auch mehr als gut so. Wie gesagt, manchmal muss man es einfach so nehmen, wie es in diesem Moment vor einem liegt und nicht weiter darüber nachdenken, ob es hundertprozentig die richtige Entscheidung ist, denn die gibt es nie. Natürlich denke ich noch heute daran, ob es richtig war, da es in Ländern wie Australien, Neuseeland oder der USA vermutlich um ein vielfaches leichter sein würde, aber wenn ich jetzt noch einmal die Bewerbung ausfüllen müsste, würde ich mich wieder für China entscheiden. Nichts gegen eines der vermeintlich leichteren Länder, aber wie heißt es doch sinngemäß in Gegen jede Regel? „Wenn sich eine unerwartete Gelegenheit bietet, schnappt man sich einfach den Ball und läuft drauf los.“
An alle, die überlegen ins Ausland zu gehen, sich aber nicht sicher sind, ob es die richtige Entscheidung ist: Wenn ihr die Gelegenheit habt, macht es! Man weiß nie vorher, wie es werden wird, aber es ist immer eine unvergessliche Erfahrung fürs Leben und wird euch weiterbringen, das merke ich schon jetzt. Geht nicht unbedingt den von so vielen Füßen plattgetretenen Weg in die USA. Die Sprache ist nur zweitrangig und davon abgesehen, verbessert sich sogar hier mein Englisch deutlich. Es gibt so viele andere schöne Länder auf diesem Erdball, die wir gar nicht wirklich kennen und das ist es doch, was es noch viel interessanter macht. Eine kleine Reise ins Ungewisse, aber immer in dem Bewusstsein, dass man nach Hause kann, falls es überhaupt nicht gehen sollte. Doch wie viele kennt ihr schon, die ihren Aufenthalt abgebrochen haben, weil es so schlecht war?

Liebe Grüße aus China.

Euer Joshy! J

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