Donnerstag, 9. Dezember 2010

Jiujiang, den 09. Dezember 2010


Seid gegrüßt!

Fast einen Monat ist es nun her, dass ich mich das letzte Mal gemeldet habe. Weihnachten, Neujahr und meine Abreise kommen in großen Schritten näher. Nur noch 199-mal schlafen, dann sitze ich schon im Flieger Richtung Heimat. Es ist erschreckend wie schnell alles geht.
Der dritte Advent steht vor der Tür und ich laufe nach der Schule noch immer mit kurzer Hose und T-Shirt herum. Auch wenn es morgens noch relativ kühl ist, steigen die Temperaturen am sonnigen Nachmittag auf 20°C. Leider soll es ab Sonntag schlechter werden. Eine Regenwahrscheinlichkeit von 99% und 10 – 20 l/m² lassen nicht gerade Freude aufkommen. Deshalb wird die Sonne noch so lange genossen, wie es möglich ist, auch wenn ich dafür eine leichte Rotfärbung des Gesichts in Kauf nehmen muss.
Die Zeitumstellung vom 31. Oktober nervt ziemlich, denn in China bleiben die Uhren das ganze Jahr bei ihrer Zeit. Aufgrund dessen herrschen jetzt sieben Stunden Unterschied zwischen Deutschland und China.
Es kommt jedes Jahr eine australische Delegation einer Partnerschule an die Jiujiang Foreign Language School (九江外国语学校), meine Schule. Dieses Jahr waren sie vom 19. bis 29. November hier. So viele westliche Gesichter waren echt ungewohnt. Zusammen waren wir am 23. mit unserer Schulleitung bei Eiseskälte (5°C) und bestem Wetter in den Bergen. Man kann sich nicht vorstellen wie sauber sich die kalte Luft bei jedem Atemzug anfühlt. Neben den Australiern kam sich jeder von uns wie ein Chinesischgenie vor. Da es für sie nur eine Art Exkursion und keine Sprachreise war, sprechen sie alle kein Chinesisch.
Etwas ungewöhnlich ist es, die ganzen Menschen in Schlafanzügen auf der Straße zu sehen. In den Morgen- und Abendstunden findet man sie überall, jedoch sind es keine schlichten Pyjamas. Sie sind meist rot oder rosa und sind mit kindlichen Motiven bedruckt. Comicfiguren, Teddys oder übergroße Pandabären.
In jeder Straße findet man kleine Läden, in denen man sich für wenig Geld gut massieren lassen kann. Sogar im Krankenhaus kann man für eine Massage bezahlen. Der Taiwanese und ich haben das mal ausprobiert und das Ergebnis war echt gut, ganz davon abgesehen, dass wir umgerechnet nur 1,22€ bezahlt haben – für beide zusammen!
Wachtelsuppe hört sich ja nicht unbedingt schlecht an, aber wenn man den Raum betritt und eine ganze Wachtel liegt in dem Schälchen, ist es schon etwas anderes. Auf der einen Seite gucken die Füße steif wie Stäbchen aus dem Wasser und auf der anderen krümmt sich der Hals über den Rand der Schale und der Kopf taumelt kurz über der Tischplatte. Nachdem ich das wenige Fleisch gefunden und verspeist hatte, war ich fertig. „Denkste“! Es wird alles gegessen, was sich zerkauen lässt. Also machte ich mich langsam an dem Kopf zu schaffen. Mein Vater zeigte mir, wie ein leichter Druck des Stäbchens das Auge „herausspringen“ lässt. Danach benutzt man besagten Gegenstand auch noch dazu, um das Hirn heraus zu kratzen. Ihr könnt es euch wohl kaum vorstellen, aber ungenießbar ist es auf keinen Fall. Doch das Bild im Anschluss an diese Folter prägt sich ein. Der ungehinderte Blick durch den Kopf auf den Tisch ist alles andere als normal.
Ein paar von euch Lesern sind meiner Bitte nachgekommen und haben mir Fragen gestellt, die ich jetzt beantworten werde.
Wie kann man sich das Familienleben vorstellen? Sitzt man den ganzen Tag nur vor dem Fernseher oder unternimmt man auch andere gemeinsame Aktivitäten?
Bei mir ist es so, dass mein Vater normalerweise den ganzen Tag auf der Arbeit ist und auch dort am Mittag isst. Er arbeitet im städtischen Center für Präzisionsmechatronik. Meine Mutter kommt als Lehrerin mittags nach Hause, um Essen zu kochen. Da wir werktags auf dem Gelände ihrer Schule wohnen, hat sie keinen allzu langen Weg. Mein Bruder ist im Gegensatz zu mir auch zu Hause, um dort Mittagessen zu sich zu nehmen. Falls bei uns mal am Nachmittag etwas ausfallen sollte, komme ich auch rechtzeitig für das Mittagessen. Meistens wird bei uns gegessen, falls jedoch meine Mutter nicht genug Zeit oder Lebensmittel hat, dann findet es bei ihrer jüngeren Schwester statt, die hier auch auf dem Gelände wohnt. Dort sind dann auch immer ihre beiden Kinder, meine Geschwister, denn auch eine jüngere Cousine ist eine 妹妹 (mèimèi = kleine Schwester). Trotz der Ein-Kind-Politik haben die drei Geschwister meiner Mutter jeweils zwei Kinder. Ich vermute, es liegt daran, dass das erstgeborene Kind bei allen dreien ein Mädchen war. Abendessen gibt es immer gegen 18 Uhr bei uns, wo dann auch 爸爸 (bàba = Vater) dabei ist. Danach geht mein Bruder wieder zur Schule und kommt erst nach 22 Uhr wieder. Mein Vater guckt die meiste Zeit Fernsehen, wenn er daheim ist. Der Fernseher läuft sowieso fast dauernd, egal, ob jemand davor sitzt oder sich keiner im Zimmer befindet. Wenn es später wird sitzen meine 父母 (fùmu = Eltern) eigentlich immer vor dem Computer und spielen Solitär, Mahjong oder ein anderes Spiel – jeden Tag, stundenlang. Am Wochenende besuchen wir fast immer die Familie. Meistens geht es zu 姥姥的家 (lǎolao de jiā = Großmutters (mütterlicherseits) Haus). Dort versammelt sich dann die ganze Familie meiner Mutter und wir Essen Mittag- bzw. Abendessen. So kann es auch vorkommen, dass an einem ganz normalen Samstag sechzehn Familienangehörige um einen Tisch herum sitzen, essen und – natürlich – nebenbei Fernsehen gucken. Die Familie meines Vaters habe ich erst einmal bei einem Essen im Restaurant kennengelernt, denn die können meine Mutter gar nicht leiden, deshalb durfte sie zum Beispiel nicht ins Restaurant mitkommen. Wenn es nicht so kalt ist gehen meine Eltern und mein Bruder fast jedes Wochenende in die Berge zum Wandern. Allerdings ist es kein idyllisches wandern auf einsamen Wegen in den Alpen, sondern eine lange Natursteintreppe, die sich kilometerlang den Berg hinaufzieht und auf der sich an guten Tagen hunderte von Menschen tummeln. Außerdem ist man immer von Bambus umgeben und hat nur selten einen freien Blick auf die schönen Berge um einen herum. Der 庐山 (lúshān heißt übersetzt „Berg Lu“) ist an seinem höchsten Punkt knapp 1.500 Meter hoch. Er gehört aufgrund seiner atemberaubenden Schönheit zu den berühmtesten Bergen in China und viele Poeten widmeten ihm Gedichte. Bis heute steht dort eine Villa von Mao Zedong, die als Museum umgebaut worden ist. Viele Chinesen gehen im Lushan-Landschaftspark wandern, um der Stadt bzw. der Hitze im Sommer zu entkommen. Außerdem glauben viele daran, dass man mehr im Leben erreichen wird, wenn man oft in großer Höhe wandert. Sie wollen hoch hinaus.
Wie nehmen Ausländer am Unterricht teil?
Gar nicht. Wenn wir keinen Sprachunterricht haben, sitzen wir meistens in unserer chinesischen Klasse. Vom Unterricht verstehen wir nach wie vor kaum etwas, außerdem setzt man in China meist auf Frontalunterricht. Es wäre ja auch wahnsinnig, wenn man mehr als 60 Schüler individuell fördern wolle. Im Klassenraum sitzen wir mit unserem Tisch in der letzten Reihe an der Wand, was eigentlich schon alles sagt. Wir lesen Bücher, hören Musik oder lernen Vokabeln. Neuerdings lassen wir manchmal die chinesische Klasse aus, da wir uns da sowieso nur langweilen, und gehen zum Sportplatz, wo wir dann jede Stunde mit einer anderen Klasse Fußball spielen. Chinesischer Fußball ist nicht gerade der beste der Welt, wenn man es nett ausdrücken möchte. Abgesehen vom Sportunterricht ist Englisch das einzige Fach in dem wir etwas teilnehmen können. Häufig werden wir etwas gefragt, wenn die Chinesen nicht weiterwissen. Heute hat mir sogar ein Schüler seine Arbeit herüber geschoben, die ich dann für ihn geschrieben bzw. angekreuzt habe.
Wird in deiner Familie auch Englisch gesprochen?
Also theoretisch spricht mein Bruder Englisch, aber nicht besonders gut. Mein Lieblingsbeispiel ist aus den ersten Tagen in Jiujiang. Ich fragte ihn: „Is this your school uniform?“ (Ist das deine Schuluniform?) und er antwortete: „No, sometimes I go by bus.” (Nein, manchmal fahre ich mit dem Bus). Deswegen spreche ich in meiner Familie ausschließlich Chinesisch. Zur Not gibt es immer noch diverse Wörterbücher im Haus.
Wie ist der Umgang Jugendlicher untereinander.
Im Großen und Ganzen ist der Umgang hier kein anderer als in Deutschland. Natürlich ist alles etwas kindlicher. Die Chinesen sitzen den ganzen Tag in der Schule oder lernen, da bleibt nur wenig Zeit, damit sich die sozialen Kompetenzen entwickeln können. Deswegen verbringen wir unsere Zeit auch eher mit Schülern aus den Abschlussjahrgängen oder noch älteren. Selbst hier gibt es Mobbing. Es ist zwar nicht so extrem wie in manchen Fällen in Deutschland, aber trotzdem vorhanden. Es werden gerne Spitznamen gegeben. So haben wir zum Beispiel 非洲鸡 (fēizhōu jī = afrikanisches Huhn), die einen etwas dunkleren Teint hat und 母老虎 (mǔláohǔ = etwas wie Hausdrachen (wörtlich Tigerin)), weil sie ein etwas aufbrausendes Wesen ist, das gerne schreit und böse ist.
Was spielen Chinesen? Ich kenne nur Mahjong und das Brettspiel mit den schwarzen und weißen Steinen.
Das Spiel mit den schwarzen und weißen Steinen nennt sich 象棋 (xiàngqí) und ist chinesisches Schach. Das Mahjong, das wir aus der Spieleabteilung unseres Computers kennen, wird hier eigentlich nicht gespielt. Hier spielt man 麻将 (májiàng). Es wird mit den gleichen Steinen gespielt, ist aber komplizierter und man spielt es zu viert. Außerdem sieht man überall auf der Straße Männer eine Art Poker spielen. Beides dreht sich meistens um Geld.
Ist alles so gebaut wie deine Schule?
Nein, denn meine Schule ist für das chinesische Bautempo schon wieder alt, nämlich fünf Jahre. Hier werden ständig neue Gebäudekomplexe erbaut und das in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit. Ganz wichtig ist auch, dass es die anderen Häuser in näherer Umgebung überragt. Jedes neue Gebäude ist riesig und kommt der Smogglocke einen Schritt näher. Diese Häuser sehen im Prinzip genauso aus, wie die, die bei uns neu errichtet werden.
Wie ist die Natur?
Natur gibt es nur außerhalb der Stadt. In der Stadt sieht man zwar mal einen Baum, aber die sind auch nur an den großen Straßen gepflanzt. Wenn man jedoch aus der Stadt herauskommt und beispielsweise in die Umgebung des Lushan fährt, ist es wunderschön.
Kannst du schon das nötigste sagen?
Ja, für die kleinen Unterhaltungen des Alltags reicht es, allerdings auch nicht für viel mehr. In meiner Familie kann ich mich weitgehend verständigen und wenn ich auf der Straße angesprochen werde auch. Das sind allerdings auch immer die gleichen Dinge. Woher kommst du, bist du Student, wie alt bist du, etc.
Damit wäre dann auch wieder alles, was interessant sein könnte, erzählt. Es ist schön, dass einige meiner Bitte vom letzten Bericht nachgekommen sind und mir geschrieben haben. Für mich passiert hier nicht mehr viel Neues oder Interessantes, deswegen gibt es nur noch wenig zu erzählen. Für weitere Fragen, Anregungen oder Wünsche wäre ich sehr dankbar. Also lasst etwas von euch hören.

Liebe vorweihnachtliche Grüße ungefähr vom 30. Breitengrad.

Euer Joshy! J