Samstag, 9. April 2011

Jiujiang, den 09. April 2011

Moin Moin!
Keine 80 Tage verbleiben und passend dazu, bricht der Frühling so richtig aus.
Nachdem es in den letzten Wochen gewohnheitsgemäß auf und ab gegangen war, liegen die Temperaturen jetzt gefestigt über 20 Grad Celsius. Plötzlich scheint hier tatsächlich etwas wie Leben einzukehren. Die wenigen Bäume, die im Winter ihre Blätter abgeworfen haben, treiben wieder aus und alles blüht. Sogar das sonst so braun-gelbe Gras wird zu etwas, das man durchaus grün nennen kann.
Dass Datenschutz nicht gerade die größte Spezialität Chinas ist, ist allgemein bekannt. Allerdings ist es schon erschreckend beeindruckend, wie schnell sich hier persönliche Informationen verbreiten. Da bekomme ich doch vor einigen Wochen ein SMS von einer unbekannten Nummer mit dem Inhalt „Hey boy“. Auf die Frage, wer denn der geheimnisvolle Absender sei, erreicht mich eine Antwort, in der übersetzt steht „Du kennst mich wahrscheinlich nicht, aber ich möchte mit dir befreundet sein.“ Einige Nachrichten später stellte sich dann heraus, dass die Person ein Mädchen aus unserem „Abiturjahrgang“ ist, die meine Nummer über eine Freundin hat. Das ist mir bis heute ein Rätsel, denn aus ihrem Bekanntenkreis hat niemand meine Nummer. So kann das hier gehen.
Als mich ein Essenspaket aus der Heimat erreichte, war die Freude groß. Deswegen würde gleich ein paar Tage später gekocht. Kartoffeln, grüne Bohne, Rotkohl und eine Maggi-Soße. Das war gar nicht so einfach mit nur zwei Gaskochstellen, von denen eine nicht wirklich funktioniert. Letztendlich hat es aber doch äußerst gemundet, auch wenn es seltsam war, ein so deutsches Essen mit Stäbchen zu verputzen. Meiner Gastfamilie scheint es auch geschmeckt zu haben, auch wenn sie mehr gelacht als gegessen haben. Geviertelte Kartoffeln, Bohnen, Rotkohl und Soße auf einem Teller sind ja auch schon etwas Lustiges.
Zwei kleine Entdeckungen bescherten uns ein unglaubliches Frühstück, als ein Franzose und eine Dänin zu Besuch waren. Es gibt hier doch tatsächlich eine „Bäckerei“, die frischgebackenes Baguette verkauft. Die zweite Entdeckung war jedoch viel imposanter. In der letzen Ecke eines Supermarktes verstecken die doch wirklich Erdnussbutter, Marmelade und nutella. So saßen wir vier Europäer in der Bäckerei mit vier Baguettes, Blaubeermarmelade, Erdnussbutter und nutella. Jetzt brauchten wir doch nur noch Messer. Nichts leichter als das – wäre man in Deutschland! Aber in China hat man es nicht so mit Messern, hier gibt es nur das große Hackbeil zum Zerstückeln von Fleisch mit Knochen. Als Antwort auf unsere Nachfrage gab ein Angestellter uns einen kleinen Plastiklöffel und eine Plastikgabel. Man könne die Gabel ja umdrehen und zum Schmieren verwenden. Ja, ne ist klar. Wäre der/die/das nutella nicht so unglaublich hart gewesen, hätte es ja auch funktionieren können. Zumindest war es vermutlich das unterhaltsamste Frühstück aller Zeiten.
Seit der Entdeckung des Baguettes statten wir besagter Bäckerei immer mal wieder einen Besuch ab und essen einfach nur ein trockenes Baguette. Dabei ist mir aufgefallen, dass man chinesisches Essen nicht kauen muss. Die Gerichte hier sind meistens so klein oder weich, dass man nicht wirklich kaut. Es wird ein bisschen mit der Zunge darauf herumgedrückt und dann einfach geschluckt. Dementsprechend kann so ein einfaches Baguette ganz schönen Muskelkater auslösen. Ich werde die verbleibenden elf Wochen fleißig trainieren, damit ich für Deutschland gewappnet bin.
In den letzten Wochen werden die weltweiten Nachrichten selbstverständlich von einem Land dominiert: Japan. Es ist unfassbar schrecklich, was dort passiert ist und immer noch passiert und mein Mitgefühl gilt den Opfern dieser Katastrophe. Vermutlich vertritt jedes Land dieses Planeten dieselbe Meinung – außer China. Was ich hier die letzten Wochen für Kommentare und Reaktionen miterlebt habe, ist wirklich erschreckend. Es gibt hier kaum Menschen, die so denken, wie wir. Natürlich sind China und Japan aufgrund der Geschichte alles andere als gute Freunde, aber irgendwo muss man mal auch eine Grenze ziehen. Als mein Bruder am Tag des Unglücks an den Essenstisch kam, erzählte er gerade von den Nachrichten und dem schweren Seebeben vor Japan und das Einzige, was meiner Mutter in dem Moment einfällt, ist: „Wir hatten vor ein paar Tagen in der Provinz Yunnan auch ein Erdbeben mit einer Stärke von 5,8.“ Kein Funken Mitgefühl. Damit verhält sich meine Mutter wie die meisten Chinesen. Andere reagierten sogar noch extremer und sagten: „Ach, die Japaner haben das verdient!“ Bei solchen Äußerungen fehlt mir jedes Verständnis. Egal, was in der Vergangenheit passiert ist, so etwas denkt man nicht mal! Als ich eine Freundin aus meiner Schule nach ihrer Meinung zu der Katastrophe gefragt habe, sagte sie, es sei schrecklich, was ist Japan passiere, allerdings sei sie Chinesin, deswegen möge sie Japan nicht und es sei ihr gleichgültig. Die Schüler scheinen zu wissen, dass es in Japan Probleme mit einem Atomkraftwerk gibt, jedoch wirkt es so, als wüssten sie nicht über die Gefahren der atomaren Strahlung Bescheid.
Kommen wir wieder zu einem etwas erfreulicheren Thema: Käse. Käse?, mögen sich jetzt einige fragen. Ja, Käse. Wir waren vor einer Woche in Nanchang und dort gibt es eine Metro, also die Großhandelskette. Dort haben wir uns erst einmal ordentlich mit westlichen Produkten eingekleidet. Unteranderem auch Käse, denn den gibt es in China nicht. Jetzt mögen sich wieder einige fragen: Und mit was belegen die Chinesen sich dann ihre Brote? Ganz einfach: Mit Nichts, denn Brot isst man hier nicht, wie bei uns. Es gibt hier etwas Weißbrotähnliches mit Unmengen an Zucker, aber das gilt eher als Süßigkeit, nicht als Mahlzeit. So sitze ich jetzt täglich mit meinem holländischen 3-Kilo-Edamer auf meinem Bett und lasse es mit so richtig gutgehen. Außerdem gibt es noch Salzstangen, Leibniz-Butterkekse, Zwieback, Salami, Müsli und Gewürzgurken. Als ich meiner Mutter ein Stück Käse anbot, war ich äußerst gespannt, was sie antworten würde. Vermutlich ist Edamer nicht der beste Käse zum probieren, da er relativ stark ist, aber das lässt sich nun mal nicht ändern. Das Gesicht verzog sich und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: 不好吃 (bu hao chi), was so etwas heißt wie: „Schmeckt nicht gut.“ Ich konnte nicht anders und musste einfach lachen.
Es gibt wieder Neues aus der hochgeschätzten chinesischen Duplikatsindustrie. Da hätten wir zum Beispiel die geachteten Handys von PHILIDS und PNILIDS. Außerdem gibt es elegant schlichte Handtaschen von Bior und Jacken von abibas. Immer wieder unterhaltsam.
Chinesische Kleinkinder brauchen keine Windeln, man öffnet ihnen einfach die Hosen. So sieht man überall kleine Kinder mit zerschnitten Hosen herumlaufen. Denen ist es dann auch erlaubt sich überall zu erleichtern. Straße, Laterne, Wohnzimmer, Supermarkt. Alles kein Problem. So auch mein jüngster Cousin, der es sich wohl zu Lebensaufgabe gemacht zu haben scheint, mir ans Bein zu pinkeln. Jedes Mal, wenn ich mich in der Wohnung befinde, in der er wohnt, versucht er mich anzupinkeln. Bisher hat er es allerdings erst zweimal geschafft. Einmal gab es nur einen Streifschuss am Hosenbein, weil ich rechtzeitig wegziehen konnte; das andere Mal tränkte er jedoch meinen kompletten Schuh. 1:0 für ihn.
Das Verhältnis zwischen Jungs und Mädchen im Teenageralter in China ist nicht zu vergleichen mit dem in Deutschland. Ein Satz meines 16-jährigen Bruders bringt das ziemlich gut zum Ausdruck. Er hatte seiner Mutter gerade etwas aus der Schule erzählt und sie ihn gefragt, was denn seine Mitschülerin darüber denke. „Weiß ich nicht. Sie ist ein Mädchen, mit ihr rede ich doch nicht!“ Eine feste Freundin oder einen Freund hat der durchschnittliche Chinese erst nach der Schule, das heißt frühestens in der Universität. In der Schulzeit muss man sich ganz aufs Lernen konzentrieren, denn sonst bekommt man keine guten Noten, und jeder weiß: keine guten Noten = kein guter Abschluss, kein guter Abschluss = keine gute Universität, keine gute Universität = kein guter Job, kein guter Job = kein Geld und kein Geld = kein glückliches Leben. So einfach ist das. Deswegen hat man natürlich besseres zu tun, als eine Freundin zu haben. In Deutschland würde so etwas wahrscheinlich erst besonders dazu führen, dass jeder eine Freundin oder einen Freund hätte. Es liegt in der Natur eines Jugendlichen Grenzen auszutesten und zu überschreiten. In China ist das allerdings nicht der Fall.
Chinesen sind unglaublich langsam. Wenn ich auf unterwegs bin, dann gehe ich im Slalom um alle herum. Wenn langsames Gehen olympisch wäre, wäre China unangefochtener Weltrekordhalter. Es ist wirklich unglaublich, wie langsam die gehen können. Ich hab es mal versucht, mich einfach so mittreiben zu lassen, das endete allerdings darin, dass ich jedem in die Hacken getreten bin.
Wenn es in Deutschland etwas geben sollte, das die Anzahl der Einwohner übertreffen sollte, dann wären es vermutlich Handys. In China sind es definitiv die Regenschirme und Atemschütze. Überall laufen die Menschen mit Stoffmasken vor dem Mund herum. Sie sind weiß, beschrieben oder im Hello Kitty Muster. Aber hat ja auch einen großen Vorteil, zum Beispiel muss man, wenn man krank ist, nicht wegen der Ansteckungsgefahr zu Hause bleiben. Man setzt sich die Maske auf, geht in die Schule und verpasst glücklicherweise keinen Unterrichtsinhalt. Das andere sind die Regenschirme. Sobald ein Tröpfchen vom Himmel fällt, gehen überall die Schirme auf. Jeder Mensch läuft mit einem Plastikdach über dem Kopf herum. Da wird es so gut wie unmöglich sich auf den sowieso schon überfüllten Gehwegen fortzubewegen, ans Slalomgehen gar nicht zu denken.
Jede Klasse muss ihren Raum selber putzen. Jeden Tag wird mit dem Besen durchgefegt und jeden Freitag oder Samstag einmal alles durchgewischt. Wir Ausländer müssen das in unserem Klassenraum natürlich auch machen, allerdings ist das Erste, was man beim Eintreten denkt: Puh, das wird aber ordentlich vernachlässigt. Aber wer hat auch schon Lust auf so eine Sisyphusarbeit. Es ist hier so dreckig und staubig, dass nach wenigen Minuten schon wieder alles unter einer dicken Staubschicht liegt.
Anfang dieser Woche war ein Fest zu Ehren der verstorbenen Menschen. In China besucht man nämlich nur einmal jährlich und das immer zum gleichen Zeitpunkt den Friedhof. In die Gräber, die eher an Hügelgräber mit Grabsteinen erinnern, werden Plastikblumen gesteckt. Außerdem verbrennt man eine Menge Papiergeld und legt Obst vor die Gräber. Zum Schluss verbeugt man sich dreimal vor dem Grab. Danach wird gegessen und das war eigentlich alles, was wir an dem Tag gemacht haben. Die Friedhöfe liegen immer außerhalb der Städte auf dem Land. Da es an dem Tag ziemlich windig war, war das einzige, das man hörte, das Rauschen und Flattern der Plastikblumen und –fahnen im Wind.
Vor wenigen Tagen sah ich im Badezimmer irgendetwas hinter eine Leiste krabbeln. Also bin ich wieder raus und habe meine Kamera geholt – man weiß ja nie. Meine Mutter fragte nur verwirrt, was ich denn mit der Digitalkamera auf dem Klo wolle. Verständlich. Mittlerweile war das Tier herausgekommen und es stellte sich heraus, dass es eine knapp fünf Zentimeter lange Kakerlake war. Sofort holte meine Mutter eine Schere, um das Tier zu töten. Allerdings sind Kakerlaken verdammt schnell und so ereignete sich eine amüsante Verfolgungsjagd. Irgendwann lief sie, die Kakerlake, an einer senkrecht verlaufenden Glasscheibe entlang. Meine Gastmutter erwischte ein Bein, die Kakerlake verlor die Haftung, fiel und verschwand in Richtung Wäscheberg. Daraufhin zuckte meine Mutter einmal mit den Schultern und sagte: „Ach egal.“Ich werde mich jetzt mal an den Essenstisch begeben, denn das Abendessen steht an. Hühnerfüße mit Schweinefüßen und Reis. Mhm ich kann es kaum erwarten.
Liebe Grüße aus dem blühenden Süden.

Euer Joshy!

1 Kommentar:

  1. Hallo Joshy!
    Habe Deinen letzten Eintrag mit Hochgenuss gelesen! Danke!
    Das mit den Schirmen ist in China ja auch bei Sonnenschein der Fall - Schirmchen mit Rüschchen und so, zumindest in Shanghai gesehen. Genieße noch das chinesische Essen - bald bist du wieder im "Hirschbraten mit Rosenkohl-Land".
    Und auf die Kinder mit den Schlitzen im Hosenboden besinne ich mich auch, aber nur so kleine "Unschuldige", nicht wie Dein Cousin, der ja wohl etwas niederträchtig ist, oder?
    Wie werden die Kinder in China erzogen? Wird da auch mal geschimpft? Hast du denn schon mal richtig Stress mit Deiner Gastfamilie gehabt? ODer geht das alles (auch bei Kleinkindern) "hintenrum"?

    Wann bist Du wieder in Hamburg?
    Lieben Gruß von
    Maxi

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